Sie sind hier:Start/Es war einmal …/Die Telefongeschichte

Die Telefongeschichte

  • Geschätzte Lesezeit: 6 - 12 Minuten

Eine Erzählung aus der Zeit rund um das Ende des Zweiten Weltkriegs – in unserer aktuellen Printausgabe in gekürzter Form abgedruckt, hier in voller Länge veröffentlicht. Der 1935 geborene und heute in Liezen wohnhafte Stefan Berger erinnert sich zurück, wie er vor rund 75 Jahren Wörschachwald vernetzte.

Die Telefongeschichte Foto: Copula – stock.adobe.com

Genau am 5. Mai 1945 war es wieder einmal soweit: Die Mutter schickte mich – wie so oft und ohne nachzudenken, was da eventuell in Untergrimming los sein könnte – zur Bäckerei Stenitzer, ca. eine Stunde bergab, um Brot einzukaufen. Die Bäckerei Stenitzer war der nächste Bäcker. Und nicht nur dass, da war auch eine kleine, aber feine Getränkefabrik, die das damals sehr beliebte Himbeerkracherl sowie Sodawasser erzeugte.

Ich ging also mit meinem Rucksack los und kam bald an die Wegkreuzung, wo die Straße nach Pürgg hinaufführt. Und da war der Teufel los! Ich sah viele Soldaten, die sich ihrer Uniformen weitestgehend entledigten, alle Auszeichnungen von den Röcken abtrennten und wegwarfen. Da lag bereits ein großer Berg aus lauter Uniformen, schönen graublauen Offiziersmänteln, Kappen und Röcken. Daneben ein weiterer Haufen, lauter Gewehre, viele abgeschlagen, einfach mit Kraft an einen Baum geschmettert, sodass der Karabiner in zwei Stücke zerbrach. Da lagen auch Pistolen und Gasmasken herum. Ich ging vorbei und keiner beachtete mich, die Soldaten waren so mit sich selbst beschäftigt, dass ich keinem auffiel.

Die Frau Stenitzer aber, die war um mich dann sehr besorgt und wollte mich gar nicht mehr weitergehen lassen. Das ging aber nicht, ich musste doch noch nach Pürgg zum Kaufhaus Adam, weil ich auch dort noch einiges kaufen sollte. Ich sagte der guten Frau beruhigend: „Die Soldaten tun mir nichts!“ So ging ich dann mit meinem Rucksack und ein wenig Brot in Richtung Pürgg weiter und kam beim Zettler-Bauern vorbei. Hinter dem Bauernhof war eine Schottergrube. Die gibt es heute nicht mehr, da führt die neue Straße drüber. Darin standen Kriegsfahrzeuge und bei einem fiel mir auf, dass die hintere Bordwand offen und eine Leiter angelehnt war.

Oben auf der Ladefläche dieses Fahrzeugs waren lauter schöne, neue Kisten, aus Sperrholz und mit Alublech beschlagen. Die Kisten haben mich fasziniert. „Was mag da wohl drinnen sein?“, fragte ich mich. Ich stieg einfach die Leiter rauf und öffnete eine Kiste. Darin lagen, fein säuberlich in Holzwolle eingepackt, lauter Handgranaten! Ich nahm einen Stiel mit der rechten Hand heraus und einen Sprengkopf mit der linken und wollte die beiden Teile zusammenschrauben. Plötzlich ein Schlag ­und ich torkelte gegen die Bordwand! Vor lauter Anspannung hatte ich gar nicht bemerkt, dass ein junger Soldat herangetreten war. Er schimpfte: „Blöder Bua, das ist kein Spielzeug, da kannst hin sein, lass das sofort liegen!“

Und dann meinte er: „Wenn du schon etwas zum Spielen brauchst, dann geb‘ ich dir etwas anderes.“ Er ging mit mir zu einem weiteren Auto, einem Kastenwagen. Da drinnen waren links und rechts Stellagen und auf diesen, von unten bis oben, alles voller Feldtelefone. Er nahm eines heraus. Es war auch ein Tragegurt dran, mit dem wollte er mir das „Kastl“ umhängen. Das schlug aber fehl. Ich war zu klein und so hing das Telefon bis zum Boden hinab. Aber er wusste sich zu helfen, machte einen Knoten in den Gurt und dann passte es. Dann fragte er mich: „Wie weit hast du es bis heim?“ „Na ja, schon eine Stunde“, gab ich zur Antwort. „Gut“, meinte er, „dann kommst du noch einmal, bringst aber einen Freund mit, der soll dann ein zweites Telefon nach Hause tragen. Und ein Traggestell mit Telefondraht braucht ihr auch, dann könnt ihr Tag und Nacht telefonieren.“

Der Heimweg hat sich gezogen, der Einkauf beim Adam in Pürgg wurde ganz einfach vertagt. Jetzt war das Telefon wichtiger. Ich bin nur bis zum Nachbarn, dem Poserer, gegangen, bis zu uns wäre es noch um etwa 15 Minuten weiter gewesen. Dort habe ich meinen besten Freund, den Lois, zuerst über alles informiert und dann sind wir losgelaufen. Der Lois war um drei Jahre älter als ich, daher hat er dann die Kraxe mit dem Draht getragen und ich das zweite Telefon. Noch am Abend wurde die Verbindung zwischen unseren Höfen ausgelegt. Den Draht haben wir auf Rat meines Vaters mithilfe einer langen Stange auf Bäume gehängt und, wenn es möglich war, auch auf Zäunen angebracht. Die ca. 500 Meter lange Strecke zwischen unseren Gehöften war für uns Kinder gar nicht so einfach zu bewältigen.

Es war schon finster, als wir zum ersten Mal telefonieren konnten. Und das war super! Wir konnten uns ab sofort jederzeit und ganz umsonst anrufen, Termine vereinbaren oder einfach blödeln. Ein wirklich schönes Spielzeug in dieser trostlosen Zeit, in der es ja sonst überhaupt kein Spielzeug gab. Wir hatten doch rein gar nichts und spielten mit Fichtenzapfen – das waren unsere Kühe. Auch andere Dinge, die eben in der Natur vorgekommen sind, wurden als Spielsachen umfunktioniert. Und jetzt auf einmal, so eine Errungenschaft!

Schon am nächsten Tag probierte mein Vater das „Ding“ aus und er war begeistert! Er meinte: „Des wa jo sche, woma zum Draxler eini a telefonier‘n kunnt’n!“ Das war ein Auftrag für uns. Ich rief sofort den Lois an, um den Plan zu besprechen und schon waren wir unterwegs nach Untergrimming. Der nette Soldat war wieder da und richtete uns wie am Vortag Feldtelefone tragegerecht her. Diesmal nahmen wir erst einmal jeder zwei Stück mit. Eines links, eines rechts auf der Schulter hängend. Das war ganz schön schwer, aber am Nachmittag wurde es noch schwerer, denn wir brauchten natürlich auch noch viel mehr Draht und die Drahtrollen waren erheblich schwerer. Aber wir schafften es.

Beim Verlegen der Leitung musste jetzt aber auch mein Vater mit, weil wir unsere Nachbarn fragen mussten, ob wir ihre Zäune und Bäume zum Auflegen der Leitung benützen dürfen. Dies war für den Vater kein sonderlich großes Problem, war er ja der einzige Schuhmacher weitum und daher ein allseits bekannter und auch – wenn auch meist notgedrungen – begehrter Mann. Da konnte keiner Nein sagen und außerdem fingen auch die Nachbarn an, sich für das Telefon zu interessieren. Besonders die Kinder wurden neugierig und fragten mich, wie sie zu so einem „Telefonkastl“ kommen können? Ich half gerne: ein neuerlicher Marsch nach Untergrimming, um weiteres Material wie Leitungsdraht und ein weiteres Kastl zu organisieren, und schon war das Leitungsnetz um einen Teilnehmer größer.

Nach einiger Zeit waren die meisten Bauernhöfe miteinander verbunden, was dazu führte, dass es zunehmend schwieriger wurde, den gewünschten Teilnehmer zu erreichen. Deshalb vereinbarten wir Klingelzeichen: einmal kurz läuten war Poserer, zweimal war Ebner, dreimal war Draxler usw. Dann kam aber der Brunner-Knecht aus dem Krieg heim – frühzeitig, weil er noch verwundet war. Das Brunner liegt zwischen dem Ebner und dem Draxler, war also ein Neuanschluss. Und weil das Klingelzeichen der Reihenfolge entsprechen sollte, musste auch das Klingelzeichen geändert werden. Also bekam der Brunner dreimal klingeln und Draxler vier Mal. Bis dahin ging es ja noch, aber als es dann schon zehn Teilnehmer gab, da ging es nicht mehr so gut. Nicht nur die Anrufer, auch die Empfänger mussten immer mitzählen. Da passierte es oft: eine kurze Ablenkung und schon hatte man sich verzählt. So hob des Öfteren auch der Falsche ab.

Das war ja nicht so schlimm, störend war vielmehr der Umstand, dass jeder jedes Gespräch mitanhören konnte. Es gab keine Geheimnisse mehr! So waren z. B. in unserer Nachbarschaft zwei Verliebte (die Namen will ich hier nicht nennen), die jeden Abend so gegen 21 Uhr stundenlang telefonierten. Ich schlief damals aus Platzmangel in der Schusterwerkstatt und natürlich hatte ich auch da ein Telefon. Die beiden Verliebten waren wohl vorsichtig, sie gaben kein Klingelzeichen ab, sondern hatten sich eine Zeit ausgemacht. Pünktlich um 21 Uhr hörte man ganz leise ein: „Servus, bist eh schon dran?“, oder so ähnlich. Ich wartete jeden Tag mit dem Hörer am Ohr und im Bett liegend darauf und hörte oft bis zu zwei Stunden die Liebesplauderei mit an. Oft wachte ich mit dem Hörer im Bett in der Früh auf, weil ich vor lauter Liebesgeflüster eingeschlafen war. Es kam aber auch vor, dass die beiden sich eine andere Zeit ausmachten, um ja nicht entdeckt zu werden. Deshalb versäumte ich manchmal auch das Telefonat der Verliebten, was aber nicht so schlimm war, denn es war nicht immer interessant.

Dann kam Gott sei Dank so nach einem Jahr der Pötsch Hans vlg. Mojer aus der Gefangenschaft heim. Der Hans war Funker beim Militär und kannte sich daher beim Telefon bestens aus. Er erkundigte sich sofort, wer der Urheber der ganzen Geschichte sei und war erstaunt, dass dies der kleine „Schusterbua“ vom Ebner war. Er kam zu mir gekommen, um mich zu fragen. Ich wuchs da um einige Zentimeter – so eine Ehre, der große Hans kommt zu mir, um mich zu fragen! Ja, er fragte mich, wo ich all das Zeug herhabe und ich konnte ihm natürlich Auskunft geben. Aber ob da noch etwas da sei, das konnte ich ihm nicht sagen.

Der Hans ging deshalb mit mir nach Untergrimming und siehe da, der Lastwagen stand noch immer da, nur er war jetzt verschlossen. Aber dem Hans war das egal. Er öffnete das Schloss mit einer Eisenstange und – oh Wunder! – , es war genau das drinnen, was der Hans gesucht hatte: eine Vermittlung für ein ganzes Telefonnetz. Der Hans brauchte nicht lange und ab diesen Zeitpunkt mussten wir nur einmal lange läuten, dann meldete sich jemand vom Pötsch vlg. Mojer und dieser Jemand verband einen dann mittels Stecker mit dem gewünschten Teilnehmer. Aus war es mit dem Mithören, aus war es mit dem Liebesgeflüster usw.!

Es gab aber nicht nur Vorteile durch das ganze „Klumpert“ – die Bezeichnung meiner Großmutter für das Telefon. Nein, es gab auch viele Schattenseiten. Der Sturm, der Schnee, die Rindviecher. Sie alle haben der Leitung, die, wie schon erwähnt, nur auf Bäumen und Zäunen hing, arg zugesetzt. Immer wieder war die Verbindung abgerissen, immer wieder musste die Störung zuerst gefunden und dann auch repariert werden. Alleine war man oft nicht in der Lage, oft musste man zu dritt sein, den Draht von den Bäumen herunterholen, dann zusammendrehen, wieder isolieren und wieder hinaufhängen auf den Baum. Heute würde man Klemmen verwenden, diese gab es damals aber nicht, es war schon ein Wunder, wenn Isolierbänder irgendwo zu bekommen waren. Ich war viele Stunden freiwillig unterwegs, um die Störungen zu finden, denn irgendwie habe ich mich als der Vater oder der Erfinder dieser „Angelegenheit“ gefühlt. Sehr oft hat mir der Franz Heiß vom Brunner-Bauern geholfen, aber bedankt hat sich nie jemand bei uns, wenn die Sache wieder funktioniert hat. Na ja, Undank ist der Welten Lohn!

Drei Jahre lang haben wir das so praktische „Klumpert“ benutzen und betreiben dürfen. Es war so praktisch, weil man sich dadurch viele Wege ersparte. War jemand krank, konnte man Hilfe vom Nachbar rufen. Hatte man vergessen, etwas auszurichten, griff man zum Telefon. War jemand gestorben, wurde sofort die ganze Verwandtschaft informiert und der Begräbnistermin bekannt gegeben – das „Kirchenansagen“, welches bislang in so einem Fall notwendig war, entfiel dadurch. Auch wann es zum Almzäunen war oder zum Auftrieb auf die Alm, all dies wurde per Telefon besprochen. Und auch dem Vater passte es sehr gut: Wenn Schuhe fertig waren, brauchte er einfach nur anrufen und die Schuhe wurden abgeholt. Ja, es waren einfach alle Verständigungen um vieles einfacher, man denke sich ganz einfach heute z. B. das Telefon oder gar das Handy weg, dann hat man den Zustand, der früher herrschte. Heute nicht mehr vorstellbar …

Aber dann kam der Hammer! Auf einmal, wie aus heiterem Himmel, kam der Bescheid, überbracht von der Gendarmerie, dass wir das Telefonnetz abtragen und die Telefonkastln am Postamt in Klachau beim Postmeister Sepp Lösch abliefern müssen. Das war ein harter Schlag, nicht nur für mich als quasi Urheber, sondern für alle Wörschachwalder, die sich bis dahin schon sehr ans Telefonieren gewöhnt hatten! Einsprüche über die Gemeinde waren erfolglos, weil die Feldtelefone und der Leitungsdraht als Kriegsbeute galten und deshalb abzuliefern waren. Ich bin aber eher der Meinung, dass die Post erkannt hatte, dass da kostenlos telefoniert wurde und man das verhindern wollte.

Eines bleibt bei der ganzen Geschichte noch zu erwähnen: Mehrere Bauern haben das unschöne Telefon mit einem Holzkastl überbaut. Das hat besser zur Einrichtung in den Bauernstuben gepasst. Auch wir hatten so ein Kastl. Nach dem Erhalt des Bescheids gingen der Franz Heiß und ich mit unserem Holzkasten zur Post in Klachau. Der Postmeister fragte uns nur, von welchem Haus das Telefon sei und gab dann den Befehl: „Stellt es einfach dort in die Ecke!“ Dem Franz fiel auf, dass der gute Mann gar nicht geschaut hatte, ob auch tatsächlich ein Apparat im Holzkastl ist! Das brachte uns auf eine glorreiche Idee: Wir instruierten sofort alle Nachbarn, in die Holzkastl nur Steine einzufüllen, damit es ungefähr so schwer ist, wie das Telefon, und es dann so abzugeben. So konnten wir viele Apparate heimlich behalten. Später konnten die Bauern diese dann ganz gut bei den Seilbahnen brauchen. Ich selbst habe noch immer – ein Andenken an diese Zeit – ein Feldtelefon im Keller stehen.

Heute, nach 75 Jahren, kann sich in Wörschachwald kaum jemand mehr an diese Ereignisse erinnern. Die meisten, die damals gelebt haben, sind schon verstorben, daher schreibe ich es nieder, damit es nicht ganz vergessen wird. War es doch eine Sache, die man nicht vergessen sollte.

LBN-WOHIN
×