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Das Gamsjagahäusl

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Bereits mehrfach haben wir in dieser Kolumne den 1935 geborenen Stefan Berger zu Wort kommen lassen. Dieses Mal berichtet der in Wörschachwald aufgewachsene Liezener vom ersten Ferienhäuschen in der damaligen Gemeinde Pürgg und dessen vielfältiger Nutzung. In unserer aktuellen Printausgabe haben wir eine gekürzte Version abgedruckt, hier die Erzählung in voller Länge.

Nicht nur in der Gemeinde Pürgg, nein, nach meinem Wissen auch im weiteren Umkreis, im Bezirk Liezen, hat es vor dem Zweiten Weltkrieg, also bis Kriegsbeginn 1939, nur ganz wenige Ferien- oder Wochenendhäuser, wie sie heute zuhauf in allen ländlichen Gegenden, v. a. in Berggemeinden, zu finden sind, gegeben. In der Gemeinde Pürgg ist das erste Ferienhaus im Jahr 1937 oder 1938 errichtet worden, und zwar von einem gewissen Herrn Gamsjäger, Vorname leider unbekannt, gleich unter der damaligen Jausenstation Dachsteinblick, auf dem Grund vom Markus Zandl vulgo Gindl sen. Es hat sich dabei um ein kleines gezimmertes Häuschen mit zwei Räumen, einer Küche und einem Schlafzimmer, gehandelt. Ein Bad hat es damals keines gegeben und das WC ist 20 Meter entfernt gelegen, eine kleine Holzhütte im Wald mit einem Herz in der Tür, ein landesübliches Plumpsklo halt!

Ob es dafür eine Bauverhandlung gegeben hat, ist nicht mehr herauszufinden, auch gibt es keine genauen Verträge mehr. Fest steht, der Grundeigentümer ist Ortsbauernführer in der Gemeinde Pürgg gewesen und hat daher wohl keine großen Probleme zu befürchten gehabt, sollte sich jemand über einen so kleinen Bau aufregen. Ebenso ist fraglich, welche Vereinbarungen zwischen dem Grundbesitzer und dem Bauherrn abgeschlossen worden sind. Fest steht nur, der Herr Gamsjäger ist aus dem Weltkrieg nicht mehr zurückgekommen und so ist das Häusl dem Grundbesitzer, ob zu Recht oder zu Unrecht, zugefallen. Aber in der gesamten Kriegszeit, und das ist das eigentlich Interessante, hat dieses kleine Haus für einige eine wichtige Rolle gespielt – sei es als Zufluchtsort, als Unterkunft in größter Not oder als Ausweichstelle für eine Nacht zu zweit.

Bis zum Jahr 1944 ist der Herr Gamsjäger einige Male selbst gekommen und hat jeweils ein paar Tage Urlaub in seinem Häusl verbracht, aber dann ist er wie gesagt gefallen. Im Jahr 1944 hat der Krieg dann auch unsere Breiten erreicht und es gab schwere Bombenangriffe auf Linz und Wien. Meine Frau hat Verwandte in Wien gehabt  – Onkel, Tante und einen Cousin. Onkel Max ist 1944 im Krieg gewesen, aber als er von den zunehmenden Bombenangriffen auf die Stadt erfahren hat, hat er Angst um seine Familie bekommen. Er hat vom Gamsjagahäusl gewusst und alle Hebel in Bewegung gesetzt, dass seine Frau und sein Sohn dort sicheren Unterschlupf finden. Und weil die Tante meiner Frau mit dem Gindl-Bauern weitschichtig verwandt gewesen ist, hat das auch geklappt. Der Gindl hat den Schlüssel gehabt und somit über das Häusl verfügen können.

Die Tante, Lila Mühlbacher, so hat sie geheißen, ist mit ihrem einzigen Kind, dem Werner, abgemagert und verängstigt bei uns angekommen. Wir sind aufgrund einer kleinen Landwirtschaft – zwei Kühe, eine Geiß, zwei Schweine sowie eine Schar Hühner – in der glücklichen Lage gewesen, den armen Wienern ein wenig abgeben zu können. V. a. Milch haben wir genug gehabt. Ich bin damals neun Jahre alt und dem „spindeldürren“ Wiener in allen Belangen überlegen gewesen und habe plötzlich eine sehr wichtige Aufgabe gehabt: Ich habe jeden Tag in der Früh einen Liter Milch – kuhwarm – zum Gamsjagahäusl hinunterbringen müssen, damit die zwei armen Wiener ein Frühstück gehabt haben!

Wie lange die zwei da gehaust haben, kann ich leider nicht mehr genau sagen, aber knapp vor Kriegsende sind sie jedenfalls nicht mehr da gewesen. Eines Abends sind wie so oft Soldaten zu uns heraufgekommen und haben um eine Unterkunft gebeten. Das ist nichts Neues für meine Eltern und Großeltern gewesen, nur diesmal ist es anders gewesen, denn es sind nicht nur Männer gewesen, sondern zwei Männer und zwei junge Frauen, Flakhelferinnen. Und sie wollten nicht nur eine Nacht, sondern bis Kriegsende bleiben. Dass es dem Ende zuging, ist damals – es muss so um den 1. Mai 1945 herum gewesen sein – wohl schon erkennbar gewesen, nicht aber, wie lange es noch dauern würde. Mein Vater wollte den jungen Leuten unbedingt helfen, aber es ist eine sehr verzwickte Angelegenheit gewesen, denn die vier sind genau genommen Fahnenflüchtige gewesen und solche sind damals selbst von den eigenen Soldaten ganz einfach erschossen worden! Auch die Fluchthelfer sind, wenn sie erwischt wurden, eiskalt einfach an die Wand gestellt worden und bumm! Für meinen Vater eine schwierige Situation ...

Wir haben in unserem Haus keinen Platz für vier Leute gehabt und die Gefahr, erwischt zu werden, ist meinem Vater zu groß gewesen. Der Nachbar, der Herr Zandl vulgo Gindl, ist nämlich Ortsbauernführer gewesen, ein Nazi also! Wenn der davon Wind bekommen hätte … Dann ist mein Vater aufs Ganze gegangen. Bis heute weiß ich nicht, was er sich dabei gedacht hat, aber er hat mich mit einem der Soldaten, dem Alfred, hinunter zum Gindl, dem Nazi, geschickt. Der Soldat sollte selber fragen, ob es eine Möglichkeit gebe, im Gamsjagahäusl das Kriegsende abzuwarten. Ein Himmelfahrtskommando, von dem wir, also weder ich noch der Alfred, gewusst haben, welchen Ausgang es nehmen würde.

Aber es ist alles gut gegangen! Nur, seit Jahren schon frage ich mich, warum der Herr Zandl, ein Nazi, es erlaubt hat. Er ist dadurch ja selbst ein großes Risiko eingegangen, hat gegen alle Vorschriften gehandelt. Leider habe ich zu lange damit gewartet, meinen Vater zu fragen, der im Jahr 1957 mit nur 59 Jahren ganz plötzlich an einem Hirnschlag verstorben ist. Der Gindl, der ist nach meiner Lehrzeit sogar einmal für ca. zwei Jahre mein Chef gewesen. Ich bin Bauernknecht geworden, sonst gab es damals für mich als Schuster nichts. Aber der ehemalige Ortsbauernführer, der ist für mich so eine Respektsperson gewesen, da habe ich mich nicht getraut, solche Sachen zu fragen, obwohl ich genau gewusst habe, dass er mit meiner Tante ein „Gspusi“ gehabt hat. Ja, ich habe den beiden sogar mal zugeschaut, wie sie sich im Wald, na ja, Sie wissen schon …

Der Gindl hat uns also wider Erwarten den Schlüssel fürs Gamsjagahäusl gegeben und die vier konnten dort wohnen, wenn auch mehr schlecht als recht. Am Tag hatten sie keinen Ausgang, das wäre zu gefährlich gewesen, erst in den Abendstunden, wenn alles finster gewesen ist, da sind sie zu uns heraufgekommen. Die Fenster sind damals mit einen Verdunkelungspapier zugeklebt gewesen. Es hat kein bisschen Licht nach außen dringen dürfen. Wegen der Flieger, hat man gesagt, dass der Feind nicht sehen kann, wo jemand wohnt. Die Tage sind vergangen und immer mehr Soldaten sind zu uns heraufgekommen, meist am Abend. Die haben in der Tenne im Heu geschlafen und waren in der Früh wieder weg. Die vier aber, die sind geblieben und die hatten Hunger. Kein Wunder, sie hatten ja nichts mit und wir konnten auch nicht sehr viel hergeben, außer Kartoffeln und Milch, ein paar Eier, das war‘s dann schon.

Und jetzt kommt das, woran ich heute noch immer denken muss: Der Gindl hat diesen Fahnenflüchtigen einen Unterschlupf geboten, hat sich und andere dadurch in Lebensgefahr gebracht, er hat Nächstenliebe trotz höchster Gefahr bewiesen. Und als Dank haben ihn die vier ganz gemein bestohlen! Es war so: Eines Tages ist der Alfred, er war anscheinend der Chef der Gruppe, zu meinem Vater gekommen und hat geklagt, dass sie so hungrig seien und dringend irgendetwas „anstellen“ müssten, um nicht zu verhungern. Da ist guter Rat teuer gewesen, die Situation schwierig. Woher nehmen und nicht stehlen? Der Vater hat gemeint, man könne eventuell ein Reh oder einen Hasen schießen, an einer brauchbaren Büchse sollte es nicht scheitern und Wild laufe auch genug herum, aber in der Nacht ginge so etwas nicht und am Tag wäre es aus den verschiedensten Gründen unmöglich. Alleine schon der Schuss würde auffallen und erwischt zu werden, das wäre wohl für alle vier das Aus gewesen. Es wisse nur eine Möglichkeit, hat mein Vater gemeint, nämlich ein Schaf vom Gindl holen.

Die Schafe vom Gindl haben sich auf einer Weide unterhalb vom Gindlhörndl befunden. Die sogenannte Halt ist eingezäunt gewesen, die Schafe waren daher leicht zu finden, auch in der Nacht. Wieder einmal bin ich als Helfer in der Not eingeteilt worden. Mit einem Flobert, einem Kleinkalibergewehr, ausgerüstet sind wir bei Mondlicht daheim gestartet. Ich habe ziemlich genau gewusst, wo sich in der Nacht die Schafe aufhalten, nämlich ganz oben, in einem kleinen Waldstück. Also habe ich dem Alfred einen Standplatz unterhalb zugeteilt und die Schafe anschließend aus dem Wäldchen getrieben. Ein Schuss, so um Mitternacht und so weit oben, der ist nicht aufgefallen. Wir haben trotzdem einige Zeit gewartet, ob sich irgendetwas tut, aber es alles ruhig geblieben. Das Schaf hat dann der Alfred getragen und ich das Flobert. Die vier waren fürs Erste gerettet, aber von da an habe ich immer ein schlechtes Gewissen dem Gindl gegenüber gehabt und wenn ich daran denke, gefällt mir noch heute die Vorgehensweise meines Vaters nicht wirklich, obwohl ich auch weiß, dass er den armen Teufeln nur helfen wollte.

Am 5. Mai war bei uns der Krieg zu Ende, dass weiß ich genau, aber wie lange die vier noch dageblieben sind, dass weiß ich leider nicht mehr. Sicher ist aber, die zwei Damen und Walter, so hat der zweite Mann geheißen, die sind ohne Alfred eines Tages abgehauen, wohl in Richtung Wien. Wir haben von ihnen nie mehr etwas gehört, haben nie erfahren, ob sie dort angekommen sind bzw. wohin sie wollten. Nur der Alfred ist noch länger geblieben. Er hat uns erzählt, dass er erfahren hat, dass seine gesamte Familie bei einem Bombenangriff in Wien umgekommen ist und auch das Haus nicht mehr da ist. Seinem verlängerten Aufenthalt ist es zu verdanken, dass das Gindlhörndl heute ein Gipfelkreuz ziert – aber das ist eine andere Geschichte.


Von historisch bis sagenhaft reicht das Spektrum jener Erzählungen, die uns Hermann Harreiter aus Pürgg übermittelt hat. In der Kolumne „Es war einmal … in Stainach-Pürgg“ veröffentlichen wir diese interessanten Geschichten.

LBN-WOHIN
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