Wo KI auf Nachhaltigkeit trifft – Im Gespräch mit Siemens-Standortleiter Herbert Tanner
- Autor/in: Christian König
Herbert Tanner stammt aus dem Bezirk Murau und studierte in Graz Technische Mathematik, bevor er 1988 seine Laufbahn bei Siemens begann. In Graz baute er von Grund auf ein Software-Entwicklungsteam auf, das heute weltweit in nahezu jeder Industrieanlage mit Siemens-Komponenten vertreten ist. Nach mehreren Stationen mit europäischer Verantwortung übernahm er 2014 die Leitung dieses Teams und ist seit 2019 zusätzlich Standortleiter für Graz und Klagenfurt. Dort setzt er besondere Schwerpunkte auf Forschung, Innovation und Nachhaltigkeit. Als Speaker am Zukunftsforum in Ramsau am Dachstein gibt Herbert Tanner Impulse zu den Schwerpunktthemen Digitalisierung und Innovation.
Herbert Tanner (Fotos: Photo Simonis Wien)Herr Tanner, Sie arbeiten in einem Bereich der massiven Umbrüchen im Ausmaß einer neuen technischen Revolution unterliegt. Was sind dabei die großen Herausforderungen und was die großen Chancen?
Die großen Herausforderungen liegen definitiv in den schwierigen Rahmenbedingungen, besonders hier in Österreich. Die Industrie sieht sich mit einer Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert – seien es regulatorische Vorgaben, der Klimawandel, der Fachkräftemangel oder die zunehmende globale Konkurrenz, vor allem aus den USA und China. Diese Länder dominieren viele Schlüsselbereiche, beispielsweise KI, Superchips oder Large Language Models.
Die Chancen sehe ich vor allem in der Stärke der europäischen Industrie. Europa hat die Möglichkeit, die Spitzenposition in spezialisierten Industriebereichen weiter auszubauen. Besonders im Bereich der nachhaltigen Digitalisierung und bei der Entwicklung intelligenter, KI-gestützter Systeme steckt enormes Potenzial. Hier kann Siemens mit Technologien wie dem Digitalen Zwillingen oder dem industriellen Copiloten Pionierarbeit leisten. Kontinuierlicher Wandel ist bei Siemens geradezu in der DNA verankert und wird uns auch erneut zum Erfolg führen, wenn wir es schaffen, Nachhaltigkeit und digitale Technologien Hand in Hand voranzutreiben.
Ein weiterer Aspekt ist, dass Transformation immer mit Chancen für neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfung verbunden ist. Die Herausforderung bleibt, die Geschwindigkeit der Anpassung hochzuhalten und die Verantwortung – gemeinsam mit der Politik, der Wissenschaft und natürlich unseren Mitarbeitenden – zu tragen.
Sie sind Leiter der Siemens Niederlassungen Graz und Klagenfurt und leiten darüber hinaus eine innovative Software-Entwicklungsabteilung. Wo schätzen Sie, dass wir technisch in 10 Jahren stehen?
Wenn wir die derzeitigen Entwicklungen weiterdenken, wird die Industrie in 10 Jahren noch stärker datengetrieben und vernetzt sein. KI ist dabei nicht nur eine Softwarelösung, sondern ein integrativer Bestandteil nahezu aller Systeme. Autonome Entscheidungen von Maschinen werden punktuell Realität sein, allerdings mit klar definierten Kontrollmechanismen, da die Verantwortung beim Menschen bleiben muss. Diese enge Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine wird eines der zentralen Themen der kommenden Jahre.
Technisch sehe ich Fortschritte besonders in den Bereichen der Digitalen Zwillinge, bei denen die Simulation realer Systeme so weit verbessert wird, dass Entscheidungen in der virtuellen Welt fast vollständig auf die reale Welt übertragbar sind. Ebenso prägend ist der Übergang zur Industrie 5.0, der eine nahtlose Zusammenarbeit zwischen Menschen und KI mit sich bringen wird. Nachhaltige Technologien rücken dabei verstärkt in den Fokus, wobei Effizienz und Ressourcenschonung im Vordergrund stehen. In diesem Zusammenhang wird Siemens gemeinsam mit der Industrie als Vorreiter innovative Lösungen entwickeln.
In der Zeit der industriellen Revolution hatten die Menschen Angst von Maschinen ersetzt zu werden. Ist diese Angst heutzutage wieder berechtigt? Wie gehen Sie bei Siemens damit um, dass KI gleichzeitig Begeisterung, aber auch Ängste vor Jobverlust auslöst?
Die Angst vor Jobverlust ist nicht neu, aber sie ist verständlich. Jede technologische Revolution hat zuerst ein Unbehagen ausgelöst, bevor klar wurde, welche neuen Möglichkeiten und Arbeitsfelder sich dadurch eröffnen. Unser Ziel bei Siemens ist es, diese beiden Seiten ganzheitlich anzugehen: Begeisterung für die Chancen zu fördern, gleichzeitig aber auch Ängste und Unsicherheiten ernst zu nehmen.
Es ist wichtig, dass wir kommunizieren, dass KI den Menschen nicht ersetzt, sondern ergänzt. Beispiel: In der Qualitätssicherung verbessern KI-gestützte Systeme extrem die Ergebnisse, aber die letzte Entscheidung bleibt beim Menschen. Hier liegt die große Stärke: Ein Mensch, der versteht, was passiert, und KI als Werkzeug nutzt, ist in der Lage, weitaus effizienter und zielgerichteter zu arbeiten.
Wichtig ist auch das Angebot zur Weiterbildung. Wir müssen allen Mitarbeitenden – unabhängig von ihrem bisherigen Arbeitsfeld – die Möglichkeit geben, Kompetenzen im Umgang mit Digitalisierung und KI zu entwickeln. Damit schaffen wir nicht nur Vertrauen, sondern auch die Grundlage für ein neues Rollenverständnis.
Sie sprechen davon, keinen Pool an „Zurückgelassenen“ zu schaffen. Wie stellen Sie sicher, dass wirklich alle Mitarbeitenden von KI profitieren können?
Aktuell mache ich mir diesbezüglich keine großen Sorgen, da der Mensch in der Bedienung der KI unerlässlich bleibt. Bei KI geht es nicht um Personalabbau. Es geht darum, die Fähigkeiten und das Know-how unserer Mitarbeiter:innen gezielt zu nutzen, um die Produktivität zu steigern und einen höheren Output zu erzielen. Mit unserem Ansatz arbeiten wir daran, die Potenziale von KI für industrielle Anwendungen und damit die Gesellschaft nutzbar zu machen.
KI verändert klarerweise die Arbeitswelt und birgt eine große Chance für den Industriestandort, weil damit Jobs geschaffen werden, die bisher nicht denkbar waren, und die wir heute noch gar nicht kennen. Die Arbeit der Zukunft wird maximal vernetzt sein mit der digitalen Welt und der wachsende Einsatz von Technologie macht viele Jobs komplexer und anspruchsvoller.
Gerade mit Blick auf die Überalterung der Gesellschaft werden wir immer weniger Arbeitskräfte zur Verfügung haben. KI könnte zur Lösung dieses Problems beitragen. KI kann aber nicht den Fachkräftemangel entlang des gesamten Spektrums des Arbeitsmarktes mindern.
Sie sprechen oft davon, die reale mit der digitalen Welt zu verbinden – was bedeutet das für Sie ganz persönlich?
Ich versuche das an einem realen Beispiel zu erläutern, der ein paar wesentliche Aspekte dieser Verbindung aufzeigt: Unsere Smart Factory in Amberg produziert Siemens Automatisierungstechnik, z.B. SIMATIC-Steuerungen und nutzt dabei seine eigenen Technologien, um die Produktion nahezu vollständig zu digitalisieren und zu vernetzen. Jede Maschine, jedes Produkt und jeder Prozess haben ein digitales Abbild. So kann man Abläufe simulieren, Fehler frühzeitig erkennen und Prozesse optimieren.
Nachhaltigkeit ist nicht nur moralische Pflicht, sondern auch ökonomischer Vorteil. Wo sehen Sie für Siemens aktuell die größten Innovationschancen?
Wir befinden uns mitten in einer nachhaltigen und digitalen Transformation, die für Siemens nicht nur eine Unternehmensstrategie, sondern eine Investition in die Zukunft ist. Die größten Innovationschancen sehe ich im Bereich des Energiemanagements, der E-Mobilität und der Digitalisierung von Prozessen, um sowohl ökonomische als auch ökologische Zielsetzungen gleichermaßen zu erfüllen.
Ein gutes Beispiel ist der Fokus auf Technologien, die Dekarbonisierung und Digitalisierung miteinander kombinieren. Insbesondere bei Lösungen im Bereich der Stadtentwicklung – wie wir es in Wien bei der Seestadt Aspern bereits umsetzen – und in der Technologieentwicklung für die Industrie sehen wir enormes Potenzial. Wir beschäftigen uns unter anderem auch gemeinsam mit der Montanuniversität Leoben und heimischen Industrieunternehmen mit Herausforderungen im Bereich Kunststoff-Recycling. Es ist unser Ziel, Technologien weiterzuentwickeln, die sich nicht nur rechnen, sondern die gleichzeitig nachhaltige Lebensweisen fördern.
Viele Unternehmen spüren enormen Transformationsdruck. Wie helfen Sie Ihren Kunden, diesen Druck in positive Energie umzuwandeln?
Unternehmen stehen vor der Herausforderung, mit einem zunehmend komplexen Umfeld und steigenden Anforderungen zurechtzukommen. Siemens unterstützt seine Kunden, indem wir ihnen Technologien und Werkzeuge bereitstellen, die Effizienz- und Nachhaltigkeitsgewinne ermöglichen.
Unsere Ansätze wie der Einsatz von KI, der digitale Zwilling oder kompetente Beratung helfen Unternehmen, ihre Prozesse neu zu gestalten und Chancen zu erkennen, die mit dem Wandel einhergehen. Indem wir offen und kritisch die Fragen unserer Zeit angehen, möchten wir unseren Kunden dabei helfen, resiliente und zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln. Transformation bedeutet für uns nicht ein bloßes Meistern der Herausforderungen, sondern die Chance auf Wachstum und Fortschritt.
Der EU-Green Deal setzt klare Vorgaben – sehen Sie das eher als Bürde oder als Katalysator für neue Geschäftsmodelle?
Es ist inzwischen Teil unseres Markenkerns geworden, da nachhaltiges Wirtschaften nicht nur ökologisch notwendig ist, sondern auch ökonomisch vorteilhaft ist. Langfristiges Wirtschaftswachstum ist nur möglich, wenn ökologische und soziale Aspekte berücksichtigt werden. Das ist auch Chance für Innovation. Gesetzliche Vorgaben wie z.B. der EU-Green Deal drängen uns dabei zu einem rascheren Umstieg auf nachhaltige Produktionslinien.
Wir haben uns zum Ziel gesetzt unsere Kunden auf ihrem Weg der Nachhaltigkeit zu unterstützen. Dies gelingt uns schon bei rund 90 Prozent unseres Geschäfts. Die von uns im GJ 2023 verkauften Produkte werden (über die Lebensdauer) zur Vermeidung von 190 Millionen Tonnen CO2-Emissionen bei unseren Kunden beitragen.
Sie sagen, die Energiewende findet in den Verteilernetzen statt – was ist für Sie der spannendste Hebel, um diese Netze intelligent und resilient zu machen?
Die Energiewende findet zu einem großen Teil in den Verteilernetzen statt. Hier sind die Anlagen für erneuerbare Energien angeschlossen, ebenso eine zunehmende Zahl steuerbarer Verbraucher wie Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen und Speicher. Durch den höheren Anteil der Stromerzeugung aus Wind und Sonne ändern sich die Energieflüsse im Stromverteilernetz nicht nur abhängig von der Lastsituation, sondern auch von der Wetterlage.
Daher ist es erforderlich, die klassischen Strom-„Einbahnstraßen“ bedarfsgerecht mit digitaler Intelligenz auszustatten und zu aktiven, „gegenverkehrstauglichen“ Smart Grids umzubauen. So kann auch bei hochvolatiler Einspeisung ein sicherer und stabiler Netzbetrieb sowie mehr Flexibilität gewährleistet und gleichzeitig die Netzausbaukosten begrenzt werden.
Laut Studien kann der zusätzlich notwendige Netzausbau um mehr als 30% reduziert werden, wenn man genau wüsste, wie viel Strom zum jeweiligen Zeitpunkt wo gebraucht wird.
Energieeffizienz ist ein Schlüsselbegriff – wo sehen Sie aktuell die größten „Low-Hanging-Fruits“ für Industrie und Gebäude?
Energieeffizienz beginnt bei den Prozessen, die sich am einfachsten optimieren lassen. Ich sehe die „Low-Hanging-Fruits“ aktuell vor allem in der Nutzung intelligenter Gebäudeautomation und in der Nachrüstung bestehender Anlagen mit energieeffizienten Komponenten. Technologien wie Smart Metering, automatisierte Steuerungssysteme und eine KI-gestützte Optimierung des Energieverbrauchs sind hier essenziell.
Mit Xcelerator wollen Sie industrielle Standards setzen – was unterscheidet Ihre Plattform von den Angeboten anderer Tech-Giganten?
Siemens Xcelerator unterscheidet sich in erster Linie durch ihre starke Industrieverankerung. Wir bringen eine jahrzehntelange Erfahrung mit, die sowohl Hardware als auch Software umfasst. In jeder dritten Industrieanlage weltweit sind Siemens-Komponenten verbaut – das gibt uns eine gewaltige Grundlage, um eine skalierbare, nutzerfreundliche Plattform anzubieten.
Im Gegensatz zu vielen reinen Software- oder Cloudunternehmen basiert Xcelerator auf einem hybriden Ansatz. Wir wissen, dass die Industrie einen intelligenten Austausch zwischen Maschinenparks, Softwarelösungen und Automatisierung verlangt. Unsere Plattform versteht sich dabei nicht nur als technische Lösung, sondern bietet insbesondere kleineren und mittleren Unternehmen (KMUs) die Möglichkeit, ihre Entwicklungsprozesse zu beschleunigen und gleichzeitig unsere Infrastruktur für Vermarktung und Wachstum zu nutzen. Man könnte fast sagen, Xcelerator ist ein „App-Store“ für die Industrie.
Siemens existiert in Österreich seit über 145 Jahren. Was ist das Geheimnis, dass sich das Unternehmen immer wieder neu erfinden kann?
Das Geheimnis liegt in einem Grundsatz, der unser Unternehmen seit jeher begleitet: Wir handeln in Verantwortung – sowohl für unsere Kunden als auch für die Gesellschaft. Dieser Ansatz fordert uns, nie stillzustehen und gleichzeitig über Innovationskraft und Resilienz zu verfügen.
Wir haben früh erkannt, dass technologische Entwicklungen die Grundlage für nachhaltigen Erfolg sind. Siemens hat sich zum Ziel gesetzt, nicht nur Hardwareproduzent zu sein, sondern sich zur führenden Technologie- und Softwarefirma weiterzuentwickeln.
Ein klarer Fokus auf lokale Lösungen hilft uns, flexibel auf regionale Anforderungen einzugehen. Graz ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie wir Standorte gezielt stärken – durch Hardwareprodukte wie Trafo-Stationen, die an die Bedürfnisse der Region angepasst sind, aber auch durch unsere lokalen Forschungskooperationen etwa im Bereich Cyber-Security mit der Technischen Universität Graz oder Kunststoff-Recycling mit der Montan-Universität Leoben, mit denen wir echten Mehrwert schaffen. Der Schlüssel ist daher ein Zusammenspiel aus Tradition, Innovation und Verantwortung.
Sie selbst sind leidenschaftlicher Berg- und Skitourengeher. Inwiefern prägt die Erfahrung am Berg Ihre Haltung zu Transformation, Risiko und Nachhaltigkeit?
Im Laufe der letzten Jahre war ich auf fast allen steirischen Bergen, die höher als 2000 Meter sind. Ich habe dabei wunderschöne, manchmal geradezu magische Momente erlebt, die mir die Schönheit dieser Landschaft, aber auch deren Verletzlichkeit gezeigt hat. Ereignisse, wie Hochwasser, Windbruch durch Sturm oder die Austrocknung von Seen und Mooren haben mich zu einem “Nachhaltigkeits-Verfechter” gemacht und ich versuche mit eigenem Beispiel positiv voranzugehen. Dabei nütze ich sowohl die Möglichkeiten eines Unternehmens wie Siemens als auch neue Ansätze in meinem familiären Umfeld.
Sie sind Speaker am Zukunftsforum in Ramsau am Dachstein. Von was können die Besucher dort profitieren?
Die Teilnehmer können von den praktischen Anwendungen und den Vorteilen von Technologien wie Künstlicher Intelligenz, Digitalen Zwillingen und weiteren digitalen Lösungen erfahren, die bereits heute maßgebliche „Game Changer“ in der Industrie darstellen. Zudem werde ich die Bedeutung von lokalen Partnerschaften und Glokalisierung hervorheben, eine Praxis, die es uns ermöglicht, globales Wissen mit lokaler Umsetzung zu verbinden. Ziel ist es, den Besuchern Impulse zu geben, wie sie ähnliche Konzepte in ihren eigenen Bereichen implementieren können, um zukunftsfähig zu bleiben.
Ich stehe aber auch dafür, kritische Dinge offen und ehrlich anzusprechen, erlaube mir zu kritisieren, versuche aber auch immer meinen beziehungsweise unseren eigenen Beitrag zur Problemlösung darzulegen und ich bin bereit meinen Teil der Verantwortung dafür zu übernehmen.